German Fairy Tales

Das Rätsel

 

Edited by Eugene R. Moutoux

"Da merkte er wohl, daß er zu dem Hause einer Hexe gekommen war, doch weil es finster wurde und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, trat er ein."
e Abreise (-n) - departure

bei Anbruch der Nacht (des Tages) - at nightfall (day- break)

anreden - address

berauben - rob

bereiten - prepare

r Biß (Bisse) - bite

brauen - brew

e Dunkelheit - darkness

festschnallen - buckle securely

geraten (ä; ie, a) in (auf) (w/ acc.) - come into (upon)

s Getränk (-e) - drink, beverage

s Gift (-e) - poison

heftig - vehement; intense

hinstürzen - fall down

e Kohle (-n) - coal

e Kunst (¨-e) - art

r Lehnstuhl (¨-e) - reclining chair

mitnehmen (nimmt mit; a, mitgenommen) - take along

r Mörder (-) - murderer

nachlaufen (äu; ie, au) (w/ dat.) - run after

spritzen - spray

r Trank (¨-e) - drink, beverage

treiben (ie, ie) - drive; practice (arts, science); carry on

umbringen (brachte um,

umgebracht) - kill

vorsichtig - cautious(ly), careful(ly)

warnen - warn

zubringen (brachte zu; zuge- bracht) - spend, pass (time)

 

Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust, in der Welt umherzuziehen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tages geriet er in einen großen Wald, und als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wußte nicht, wo er die Nacht zubringen sollte. Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher kam, sah er, daß das Mädchen jung und schön war.

Er redete sie an und sprach: "Liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen für die Nacht ein Unterkommen finden?"

"Ach ja", sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, "das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu; geht nicht hinein."

"Warum soll ich nicht?" fragte der Königssohn.

Das Mädchen seufzte und sprach: "Meine Stiefmutter treibt böse Künste. Sie meint's nicht gut mit den Fremden."

umherzuziehen: to rove / niemand als: no one but / Herberge: shelter / zuging: was walking / Unterkommen: lodging

 

Da merkte er wohl, daß er zu dem Hause einer Hexe gekommen war, doch weil es finster wurde und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, trat er ein. Die Alte saß auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. "Guten Abend", schnarrte sie und tat ganz freundlich. "Laßt euch nieder und ruht euch aus."

Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke. Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen. Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde saß, sprach die Alte: "Warte einen Augenblick, ich will euch erst einen Abschiedsttrank reichen."

schnarrte: spoke with a rattling voice / tat: acted / blies an: blew on / Abschiedstrank: parting drink

 

Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel festschnallen mußte, war allein noch zugegen, als die böse Hexe mit dem Trank kam. "Das bring deinem Herrn", sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas, und das Gift spritzte auf das Pferd, und war so heftig, daß das Tier gleich tot hinstürzte.

Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was geschehen war, wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, saß schon ein Rabe darauf und fraß davon. "Wer weiß, ob wir heute noch etwas Besseres finden", sagte der Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit.

zugegen: present / im Stich lassen: abandon

 

Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber nicht herauskommen. Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum Abend- essen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube geraten, und in der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und berauben.

Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzen sie sich zu Tisch, und der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie aßen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war. Kaum aber hatten sie ein paar Bissen hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn dem Raben hatte sich das Gift vom dem Pferdefleisch mitgeteilt.

Mördergrube: murderers' den / sich ans Werk machten: began / zu ihnen: with them / gehakt: chopped / hatte sich mitgeteilt: had spread
Beantworten Sie die folgenden Fragen!

1. Wen nahm der Königssohn mit auf seinen Ritt durch die Welt?

2. Was fragte er das Mädchen, das er gegen Abend sah?

3. Wie antwortete sie auf seine Frage?

4. Warum wollte sie nicht raten, daß der Königssohn dort übernachte?

5. Warum trat er trotzdem ein?

6. Wovor warnte das Mädchen?

7. Was geschah, als die alte Hexe dem Diener ein Abschiedsgetränk für seinen Herrn reichte?

8. Was machte der Diener, als er zum toten Pferd zurückging?

9. Warum gab der Diener dem Wirt den toten Raben?

10. Warum haben die Räuber den Königssohn und seinen Diener nicht beraubt?

11. Wie war der Rabe vergiftet worden?

abreißen (i, -issen) - tear off

abschlagen (ä; u, a) - knock off; cut off (head)

aufschlagen (ä; u, a) - open; break open

ausfragen - interrogate, question

behalten (ä; ie, a) - keep

bekanntmachen - make known, disclose

sich besinnen (a, o) - reflect, consider

blenden - blind

daransetzen - wager, bet

zu Ende - over, finished

erraten (ä; ie, a) - guess (correctly); hit upon (answer)

herbeibringen (brachte herbei, herbegebracht) - bring (here, there)

e Magd (¨-e) - maid

pflegen - attend to, nurse; be accustomed to

s Rätsel (-) - puzzle; riddle

r Richter (-) - judge

e Rute (-n) - rod; switch

s Schlafgemach (¨-er) - bedroom

r Teil (-e) - part

vergiften - poison

verkündigen - announce

vorlegen - put forward, propose; present

e Weise (-n) - manner, way;

auf diese Weise - in this way

r Wirt (-e) - innkeeper; host

sich nicht zu helfen wissen (wußte, gewußt) - be at a loss what to do

Es war nun niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles behalten, er wolle nichts davon, und ritt mit seinem Diener weiter.

Nachdem sie lange hergezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne aber übermütige Königstochter war. Sie hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlegte, das sie nicht erraten könnte, der sollte ihr Gemahl werden. Erriete sie es aber, so müßte er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen. Sie war aber so klug, daß sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit erriet.

die es redlich meinte: who was sincere / möchte: should / hergezogen waren: had traveled / übermütig: arrogant / sollte: would / Erriete sie: If she guessed correctly
Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte und, von ihrer großen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen wollte. Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel auf. "Was ist das", sagte er, "einer schlug keinen und schlug doch zwölfe."

Sie wußte nicht, was das war. Sie sann und sann, aber sie brachte es nicht heraus. Sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht darin. Kurz, ihre Weisheit war zu Ende. Da sie sich nicht zu helfen wußte, befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen. Da sollte sie seine Träume behorchen, und dachte, er rede vielleicht im Schlaf und verrate das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt, und als die Magd herankam, riß er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruten hinaus.

In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer; die sollte sehen, ob es ihr mit Horchen besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit Ruten hinaus.

schlug: killed / sann: thought / brachte es nicht heraus: didn't figure it out / behorchen: listen in on / verhüllt: wrapped up / Kammerjungfer: chambermaid / ob es...besser glückte: if she had better luck with listening

Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und legte sich in sein Bett. Da kam die Königstochter selbst, hatte einen nebelgrauen Mantel umgetan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er schliefe und träume, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traume antworten, wie viele tun. Aber er war wach und verstand und hörte alles sehr wohl.

Da fragte sie: "Einer schlug keinen, was ist das?"

Er antwortete: "Ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde fraß und davon starb."

Weiter fragte sie: "Und schlug doch zwölfe, was ist das?"

"Das sind die zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran starben."

Als sie das Rätsel wußte, wollte sie sich fortschleichen, aber er hielt ihren Mantel fest, daß sie ihn zurücklassen mußte.

nebelgrau: fog gray / umgetan: put on / verzehrten: consumed / daran: from it

 

Am andern Morgen verkündigte die Königstochter, sie habe das Rätsel erraten, und ließ die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat sich Gehör aus und sagte: "Sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht erraten."

Die Richter sprachen: "Bringt uns ein Wahrzeichen."

Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie: "Laßt den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wird's Euer Hochzeitsmantel sein."

bat sich Gehör aus: requested a hearing / Wahrzeichen: sign

 

Beantworten Sie die folgenden Fragen!

1. Was machte der Königssohn mit den angehäuften Schätzen der Räuber?

2. Was hatte die Königstochter bekanntmachen lassen?

3. Wodurch hatten neun Männer schon das Leben verloren?

4. Was war das Rätsel des Königssohns?

5. Wie versuchte die Königstochter in der ersten Nacht die Lösung zu bekommen?

6. Warum gelang der erste Versuch nicht?

7. Wen schickte die Königstochter in der zweiten Nacht?

8. Was konnte diesmal der Königstochter zurückgebracht werden?

9. Wer ging in der dritten Nacht zu dem Königssohn, und was erfuhr sie dort?

10. Warum verurteilten die Richter den Königssohn nicht?

11. Was mußte die stolze Königstochter tun?

* * * * *

Worin liegt das Märchenhafte bei diesem Märchen? Wie würden Sie die Geschichte umschreiben, um sie realistisch zu machen?

* * * * *

In einigen Märchen kommt es vor, daß eine übermütige Frau die richtige Demut lernt. Inwiefern ist dieses Motiv auch im "Rätsel" vorhanden?

Getting with Grammar

For unreal conditions in present time, one needs the present subjunctive II. To form the present subjunctive II of most irregular verbs, one takes the second-last principal part (narrative past), "umlauts" if possible, and adds these endings:
ich     -e wir     -en
du     -est ihr     -et
er, sie, es     -e sie, Sie     -en
Several prepositions are possible after sterben to indicate the cause of death, but the most popular is an , e.g., sie ist an Krebs grestorben ("she died of cancer"). Vor is used when the dying is only figurative, e.g., ich sterbe vor Langeweile ("I'm dying of boredom").
Examples:

ich sähe ginge trüge riefe

du sähest gingest trügest riefest

er,sie,es sähe ginge trüge reife

wir sähen gingen trügen riefen

ihr sähet ginget trüget riefet

sie, Sie sähen gingen trügen riefen

The present subjunctive II of regular verbs is exactly the same in form as the narratrive past. Here is a conditional sentence using present subjunctive II in both clauses: Wenn ich seinen Vater hätte, wäre ich auch reich.
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